Alfred Lichtensteins Gedicht „Kientoppbildchen“

ALFRED LICHTENSTEIN

Kientoppbildchen

Ein Städtchen liegt da wo im Land,
Wie üblich: altertümlich.
Und Bäume stehn am Straßenrand,
Die wackeln manchmal ziemlich.

Und Kinder laufen ungekämmt.
Sie haben nackte Beine.
Zufrieden schaut ein schmutzges Hemd
Von einer Wäscheleine.

Der Abend bringt den Zeitvertreib,
Laternen, Mond, Gespenster.
Recht häufig hängt ein altes Weib
In einem kleinen Fenster.

1912

 

Konnotation

Die neuen technischen Möglichkeiten des Mediums Film, der Kinematogaph bzw. „Kientopp“ und die Schnitt- und Collagetechniken sind ein Zentralmotiv in vielen Gedichten des literarischen Expressionismus. Die avanciertesten expressionistischen Dichter, wie Jakob van Hoddis (1887–1942) und Alfred Lichtenstein (1889–1914) sind aber weit davon entfernt, den neuen Medien zu huldigen. Im Gegenteil.
Schon der Titel des 1912 entstandenen Gedichts deutet in seiner Diminutiv-Form eine skeptische Haltung gegenüber dem „Kientopp“ an. Während van Hoddis in seinem „Kinematograph“-Gedicht (vgl. Lyrikkalender v. 22.7.2009) die grotesken Dynamisierungen des Films abbildet, verweist Lichtenstein ironisch auf die Dürftigkeit, Banalität und Klischeelastigkeit („Wie üblich: altertümlich“) der bewegten Bilder. Bevor sich das neue Massenmedium Film gesellschaftlich etablieren konnte, hatten es die Dichter medienkritisch bereits entzaubert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00