Alfred Lichtensteins Gedicht „Mädchen“

ALFRED LICHTENSTEIN

Mädchen

Sie halten den Abend der Stuben nicht aus.
Sie schleichen in tiefe Sternstraßen hinaus.
Wie weich ist die Welt im Laternenwind!
Wie seltsam summend das Leben zerrinnt…

Sie laufen an Gärten und Häusern vorbei,
Als ob ganz fern ein Leuchten sei,
Und sehen jeden lüsternen Mann
Wie einen süßen Herrn Heiland an.

um 1910

 

Konnotation

Fast klingt es nach einer Sehnsuchtsmelodie in Paarreimen, wenn Alfred Lichtenstein (1889–1914), der ironische Melancholiker des Frühexpressionismus, die „Mädchen“ auf ihrer unruhigen Suche nach den unerhörten Glücksversprechen des Eros beobachtet. Die Welt scheint offen zu stehen, das Glück der „weichen welt“ ist greifbar nah, sogar ein Leuchten am Horizont wird avisiert. Wie in fast allen „Mädchen“-Gedichten Lichtensteins, die zwischen 1907 und 1910 entstehen, kollidiert die Sehnsucht aber mit der Realität der Straße.
Es gehörte zu den provokativen Einfällen der Frühexpressionisten, das Bild der „Mädchen“ vieldeutig schillern zu lassen – zwischen der reinen Unschuld, der Traumfrau und der Hure, die „jeden lüsternen Mann “ in den Blick nimmt. Besondere Drastik erhält das Gedicht durch die Schlusszeile, in der Lichtenstein das sexuelle mit der Gestalt des Heilands verknüpft. Sicher ist: Der Skandal der Vergänglichkeit („Wie seltsam summend das Leben zerrinnt…“) ist durch keine Verheißung zu vertreiben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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