Alfred Lichtensteins Gedicht „Punkt“

ALFRED LICHTENSTEIN

Punkt

Die wüsten Straßen fließen lichterloh
Durch den erloschnen Kopf. Und tun mir weh.
Ich fühle deutlich, dass ich bald vergeh –
Dornrosen meines Fleisches, stecht nicht so.

Die Nacht verschimmelt. Giftlaternenschein
Hat, kriechend, sie mit grünem Dreck beschmiert.
Das Herz ist wie ein Sack. Das Blut erfriert.
Die Welt fällt um. Die Augen stürzen ein.

1913

 

Konnotation

Das Leben in der Großstadt erfuhren die Dichter des Frühexpressionismus als ein qualvolles Erdulden feindseliger Außenreize und apokalyptischer Signale. Alfred Lichtenstein (1887–1914), der Dichter der Alltagsgroteske und der fatalistischen Kriegserwartung, zeichnet in seinem 1913 entstandenen Gedicht das Porträt eines heillos verlorenen Ich im Netz einer irreversibel vergifteten Metropole.
Es ist ein rasender Stillstand, dem Lichtensteins untergehender Held hier ausgesetzt ist. Die nächtlich illuminierten Straßen erscheinen als Bühne des Schmutzes und einer allumfassenden Verwesung. Das Ich wartet in der als dämonisch empfundenen Großstadt nur noch auf den eigenen Untergang. Dabei werden die Verfallsprozesse des Körpers gleichgesetzt mit den Zeichen des planetarischen Endes. Ein Jahr nach Niederschrift des Gedichts starb der Dichter als Soldat an der Westfront.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00