Àxel Sanjosés Gedicht „Rätsel“

Àxel Sanjosé

Rätsel

Es ist nicht blau, es ist nicht bunt,
es ist nicht groß und auch nicht rund,
es hat zehn Beine, keinen Kopf
und in der Mitte nur ein Loch,
es ist mal anders und mal so,
steht oft vergeblich irgendwo,
man sieht es aus der Ferne schlecht,
im Winter ist es niemals echt,
wir kennens nicht aus der Natur,
was ist es nur, was ist es nur?

2001

aus: Jahrbuch der Lyrik 2002. Hrsg. v. Christoph Buchwald und Adolf Endler. C.H. Beck, München 2001

 

Konnotation

Es gehe darum, „mit List / die Fragen aufzuspüren / hinter dem breiten Rücken der Antworten“, hat der Dichter Günter Eich (1907–1972) einmal als Hauptaufgabe eines modernen Gedichts bestimmt. Der 1960 in Barcelona geborene und in München lebende Àxel Sanjosé hat von dieser erkenntnisskeptischen Poetik Eichs gelernt und eine Dichtkunst entwickelt, die Fragen an das täuschend Vertraute stellt.
„Nicht aussagen“: Dieser Titel eines Sanjosé-Gedichts markiert die Grundbewegung seiner Texte: das „Rätsels“-Bild seiner Texte wird nicht aufgelöst, sondern durch beständiges Weiterfragen vertieft. Selbst die scheinbar leichte, spielerische Manier seines „Rätsels“ führt in Abgründe: Denn wenn das gesuchte Objekt stetigen Metamorphosen unterliegt, in seinem Zentrum „nur ein Loch hat“, visuell schlecht identifizierbar ist und in der Natur nicht vorkommt – muss der Leser bei der Rätsel-Lösung scheitern wie einst die Reisenden vor der antiken Sphinx.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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