Christian Morgensterns Gedicht „Der Schnupfen“

CHRISTIAN MORGENSTERN

Der Schnupfen

Ein Schnupfen hockt auf der Terrasse,
auf daß er sich ein Opfer fasse

– und stürzt alsbald mit großem Grimm
auf einen Menschen namens Schrimm.

Paul Schrimm erwidert prompt: ,Pitschü!‘
und hat ihn drauf bis Montag früh.

1905

 

Konnotation

Mit seinem Lachen hausieren gehen müssen ist noch viel schmerzlicher als mit seinen Klageliedern“, schrieb Christian Morgenstern (1871–1914), der unerreichte Meister der Groteske, in einem Brief vom Januar 1896. Es dauerte noch viele Jahre, bis er einen Verleger für seine grandios komischen Forschungsreisen in die Alltagswelt fand. Als er 1905 endlich seine Galgenlieder veröffentlichen konnte, begann er schon wieder unter seinem eigenen Humor zu leiden. Seine Gedichte nennt er, erstaunt über ihren Erfolg, „kleine, dumme Schmetterlinge“.
Jede einzelne banale Alltagserfahrung repräsentiert bei Morgenstern eine Welt voller Rätsel. Wie eine Misslichkeit der Nasenschleimhaut die Menschen heimsuchen kann, zeigt der Dichter in seiner wunderbaren lyrischen Miniatur über das Schnupfen-Opfer Paul Schrimm. Tröstlich ist hier, dass die Zeit der Heimsuchung begrenzt bleibt: Montag früh, beim Start in eine neue Arbeitswoche, ist der Angreifer wieder abgeschüttelt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00