Christian Morgensterns Gedicht „Unter Zeiten“

CHRISTIAN MORGENSTERN

Unter Zeiten

Das Perfekt und das Imperfekt
aaaaaaatranken Sekt.
Sie stießen aufs Futurum an
(was man wohl gelten lassen kann).
Plusquamper und Exaktfutur
aaaaaaablinzten nur.

1908

 

Konnotation

Wenn bei Christian Morgenstern (1871–1914), dem Meister der lyrischen Groteske und des Witzes, die Zeitformen ein Stelldichein arrangieren, dann beanspruchen die Hüter der Vergangenheit – das Perfekt und das Imperfekt ganz eindeutig die Dominanz für sich. Auf die weniger beanspruchten Zeitformen hebt man ein Gläschen Sekt; oder sie müssen sich dezent im Hintergrund halten.
Dass es innersprachlich die Möglichkeit der Zukunft gibt, ist den Akteuren des kleinen Grammatik-Festes einen Trinkspruch wert – der Dichter fügt eine kleine ironische Bestätigung hinzu. Der schönste Witz in diesem Zeitformen-Gedicht aus den Galgenliedern (1905) ist in der vorletzten Zeile versteckt: Den weniger gebräuchlichen Zeitformen wird das „Perfekte“ geraubt, sie sind nur verstümmelt oder verdreht anwesend. In der Erstauflage der Galgenlieder konnten das „Plusquamper und Exaktfutur“ noch skeptisch „grinsen“: in der Neuauflage von 1908 durften sie dann nur noch „blinzen“ – ein aus dem Mittelhochdeutschen stammendes Synonym für „blinzeln“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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