Christian Wagners Gedicht „Wochenkalender“

CHRISTIAN WAGNER

Wochenkalender

Montag erst. – Entsetzlich! Freudelos
Neu beginnen, wo die Woche schloss.

Dienstag erst. – Entsetzlich! Ohne Sinn
Spinnen fort des Lebens grau Gespinn

Mittwoch erst. – Entsetzlich! Ohne Ziel
Neu durchspielen das durchspielte Spiel.

Donnerstag. – Entsetzlich! Ohne Gnad
Neu durchmessen den durchmessnen Pfad.

Freitag schon. – Entsetzlich! Wirrer Tand
Neu durchwaten den durchwatnen Sand.

Samstag schon. – Entsetzlich! Ohne Gruß
Ewig wandern um des Hügels Fuß.

Sonntag heut. – Entsetzlich! Wieder neu
Segeln an dem Leuchtturm hier vorbei.

nach 1870

 

Konnotation

Wie düster mag wohl das Leben des schwäbischen Naturdichters Christian Wagner (1835–1918) gewesen sein, wenn er das Kalendarium seines Alltags nur mit resignierten Seufzern oder Bekundungen des Horror vacui zu füllen vermag? Auf die Nennung jedes einzelnen Wochentags folgt der immergleiche fatalistische Befund. Hier klingt die Mühseligkeit eines Lebens an, das Wagner in seiner kargen bäuerlichen Welt im abgelegenen Dorfflecken Warmbronn am eigenen Leib erfahren hat.
Trotz der unaufhebbaren „Entsetzlichkeit“ des Daseins kündigt das lyrische Subjekt die Fortführung der Lebensreise an. Der Mensch erscheint hier als zwanghaft vorwärts getriebenes Individuum, das aller Tröstungen und Sinngebungen beraubt worden ist – der religiösen wie der lebenspraktischen – und sich trotz aller Einsamkeit an den Vollzug seines Lebensschicksals gebunden fühlt. Die letzte Zeile lässt sogar einen Blick ins Offene zu, die Möglichkeit eines Aufbruchs – auch wenn sich der Reisende letztlich im Kreis dreht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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