Conrad Ferdinand Meyers Gedicht „Eingelegte Ruder“

CONRAD FERDINAND MEYER

Eingelegte Ruder

Meine eingelegten Ruder triefen,
Tropfen fallen langsam in die Tiefen.

Nichts das mich verdroß! Nichts das mich freute!
Niederrinnt ein schmerzenloses Heute!

Unter mir – ach, aus dem Licht verschwunden –
Träumen schon die schönern meiner Stunden

Aus der blauen Tiefe ruft das Gestern:
Sind im Licht noch manche meiner Schwestern?

1869

 

Konnotation

Schwerste seelische Krisen und Verluste hatte der Zürcher Patrizier-Sohn Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) bereits hinter sich, als er eine erste lyrische Lebensbilanz verfasste; das Gedicht „Eingelegte Ruder“ erschien 1869 in dem Band Romanzen und Bilder. Das Ich, das hier bei einer Ruderpartie in tiefes Grübeln und melancholische Introspektion verfällt, erscheint in seinen elementaren Antriebsenergien gelähmt – das Bild einer chronischen Depression.
Die emotionellen Regungen des Subjekts sind wie eingefroren; das Ich vermag weder Freude noch Trauer zu empfinden. Was bleibt, ist das Starren auf die verrinnende Lebenszeit. Der Blick geht nach innen – in eine verdunkelte „blaue Tiefe“, aus der die verflossenen Glücksmomente herauftönen. Der letzte Hoffnungsimpuls gilt nicht zufällig den „Schwestern“ – tatsächlich war für Meyer sein „Schwesterchen“ Betsy die erotische wie tragische Sehnsuchtsgestalt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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