Dorothea Grünzweigs Gedicht „DIE VATERLIEBE NICHT…“

DOROTHEA GRÜNZWEIG

DIE VATERLIEBE NICHT
gekannt als Kind bei Leib
wenn auch bei Leben es gab
sie ja sie gabs der Vater
Wortausrichter Mann aus
Wort trug sichs so zu dass
diese Lieb auch heut noch in
den Worten bis
zum Buchstab und den
Buchstabenzwischenräumen wohnt
Ich kann mich ja an viele Worte
’s ist Frage nur den rechten
nachzujagen lehnen
wärmen von
meinen unbehausten Zehn bis
zu dem Kopf der diese
Zuschirmung durch
Worte Schutzzusprechung seit
Kindsentsinnen sucht

um 2000

aus: Dorothea Grünzweig: Glasstimmen – lasinäänet. Wallstein Verlag, Göttingen 2004

 

Konnotation

Die Dichterin Dorothea Grünzweig (geb. 1952) hat sich das allerorten brüchig gewordene Vertrauen in die „wärmenden“ Worte der Dichtung und in die „Schutzzusprechung“ durch Poesie bewahrt. In einem protestantischen Pfarrhaus aufgewachsen, knüpft die Lyrikerin, die seit 1989 in Finnland lebt, in Gestus und Motivik an jene pietistische Gefühlskultur der Empfindsamkeit an, der wir die großen Werke der romantischen Schule verdanken.
In vielen Gedichten kehrt Grünzweig zu den Wurzeln ihrer Kindheit im protestantischem Pfarrhaus zurück, in dem die Ehrfurcht gebietende Sprache des Vaters, des mächtigen Pastors, die unbezweifelbare Sprache des Göttlichen war. Die Erinnerung des Gedicht-Ichs an die „Vaterliebe“ bleibt im Gedicht zwiespältig. Zunächst wird sie schroff negiert, um sie gleich darauf wieder ehrfürchtig zu beschwören. Denn der als unfehlbarer „Wortausrichter“ in strenger Definitionsmacht über die Welt gebietende Vater vermittelt auch die Sehnsucht nach intimer mystischer Nähe zu den Buchstaben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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