Durs Grünbeins Gedicht „Epitaphe“

DURS GRÜNBEIN

Epitaphe 

BERLIN. Ein Toter saß an dreizehn Wochen
Aufrecht vorm Fernseher, der lief, den Blick
Gebrochen. Im Fernsehn gab ein Fernsehkoch
Den guten Rat zum Kochen.
aaaaaaaaaaVerwesung und Gestank im Zimmer,
Hinter Gardinen blaues Flimmern, später
Die blanken Knochen.
aaaaaaaaaaNichts
Sagten Nachbarn, die ihn scheu beäugten, denn
Sie alle dachten längst dasselbe: „Ich hab’s
Gerochen.“
aaaaaaaaaaEin Toter saß an dreizehn Wochen…
Es war ein fraglos schönes Ende.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaJahrhundertwende.

1994

aus: Durs Grünbein: Den Teuren Toten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1994

 

Konnotation

Eine bevorzugte Tonlage des 1962 geborenen Bewusstseinspoeten Durs Grünbein ist der Sarkasmus. Dem ursprünglichen Wortsinn folgend, kultiviert sein poetischer Sarkasmus eine schneidende, zerfleischende, „unter die Haut“ gehende Sprache. Der Sarkast versucht, in emotional unterkühlter Form auch tragische Geschehnisse zu beschreiben und dabei „den Knochenbau von innen her zu erkunden“. Am überzeugendsten gelingt Grünbein diese kühle Inspektion sozialer Verhältnisse in seiner 1994 publizierten Sammlung von Epitaphen.
Was im täglichen Nachrichtengeschäft unter „Vermischten Meldungen“ abgehandelt wird, transformiert Grünbein zu tragikomischen Befunden über außergewöhnliche Todesfälle. Alle Epitaphe sind in einem sachlich-distanzierten, oft auch witzigen Tonfall abgefasst, das seit je dem Tod anhaftende Vergänglichkeitspathos wird dadurch konterkariert. Die Präsenz des Todes im Alltag erlaubt nicht mehr, ihn in einen religiösen oder metaphysischen Bereich zu überführen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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