Durs Grünbeins Gedicht „Grundlos, wie Leben entsteht“

DURS GRÜNBEIN

Grundlos, wie Leben entsteht

Grundlos, wie Leben entsteht, ist es bereit
aaaaaZu vergehn in den Kehlen,
Durch die Finger zu rinnen, die Wand hinab.
aaaaaWas sich nie ausging, war Angst.
In jeder Kneipe zu haben, am rechten Fleck
aaaaaWar es der Dampf an der Theke,
Der Geruch von geschlachteten Hühnern
aaaaaAus Küchen, das ranzige Öl,
Das Zerkochen von Meeresfrüchten zu Müll.
aaaaaSchaudernd siehst du den Krebs
Mit verbundenen Scheren, Forelle und Aal
aaaaaUnterm Schlammbauch des Karpfen.
Im Kofferraum schreit eine Katze nach Luft.

1994

aus: Durs Grünbein: Falten und Fallen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1994

 

Konnotation

Was du bist steht am Rand / anatomischer Tafeln“: Mit diesem nüchternen medizinisch-anthropologischen Befund hatte der 1962 geborene Dichter Durs Grünbein seinen zweiten Gedichtband Schädelbasislektion (1991) eröffnet. Seine Lyrik wandte sich ab von der Artikulation seelischer Befindlichkeiten eines feinnervigen lyrischen Ich und konzentrierte sich auf die Erkundung medizinischer, biochemischer und neurologischer Faktizitäten der Gattung Mensch. In einem Gedichtzyklus seines famosen Bands Falten und Fallen (1994) geht Grünbein in seinem anti-metaphysischen Programm noch einen Schritt weiter.
Die ganze Zerstörungsmaschinerie der industriellen Verwertung und konsumistischen Zurüstung des kreatürlichen Lebens wird in diesem bitter-sarkastischen Versen aufgerufen. Die Hinfälligkeit des Lebens, das zum funktionellen Glied einer Verwertungskette geschrumpft ist, verdichtet Grünbein in diesen verstörenden Bildern zum Sittenbild eines Zeitalters der Angst.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00