Eduard Mörikes Gedicht „Verborgenheit“

EDUARD MÖRIKE

Verborgenheit

Laß, o Welt, o laß mich sein!
Locket nicht mit Liebesgaben,
Laßt dies Herz alleine haben
Seine Wonne, seine Pein!

Was ich traure weiß ich nicht,
Es ist unbekanntes Wehe;
Immerdar durch Tränen sehe
Ich der Sonne liebes Licht.

Oft bin ich mir kaum bewußt,
Und die helle Freude zücket
Durch die Schwere, so mich drücket
Wonniglich in meiner Brust.

Laß, o Welt, o laß mich sein!
Locket nicht mit Liebesgaben,
Laßt dies Herz alleine haben
Seine Wonne, seine Pein!

1832

 

Konnotation

1832 war ein Schlüsseljahr in der geistlichen Biografie wie auch im Dichterleben des frommen Grüblers Eduard Mörike (1804–1875). In diesem Jahr entstand seine Künstlernovelle „Maler Nolten“, die unter anderem von der unglücklichen Liebe des Helden zur Zigeunerin Elisabeth handelt. Im gleichen Jahr verzehrt sich der 28jährige Pfarrvikar auch in Liebesversuchen in Richtung der Pfarrerstochter Luise Rau. Das ebenfalls 1832 entstandene Gedicht „Verborgenheit“ spricht von dem Schmerz, den diese Herzensdinge bereiten.
Hier propagiert ein von heftigen Gefühlsschwankungen erschüttertes Ich den Rückzug in den Seelenschmerz. Die niederdrückende „Schwere“ wird ab und zu aufgehellt durch blitzartig aufzuckende „helle Freude“. Aber das Ich beansprucht die „Verborgenheit“ für sich, um nicht ein weiteres Mal von den Qualen unerfüllter Liebe getroffen zu werden. Anrührend ist hier der wehmütige Volksliedton, in dem „Wonne und Pein“ des Ich besungen wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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