Elisabeth Borchers Gedicht „Vom Eindringen des Imperfekts in die Grammatik des heutigen Tages“

ELISABETH BORCHERS

Vom Eindringen des Imperfekts
in die Grammatik des heutigen Tages

Die Erde bricht wie Brot.
Ich gehe zu Grund, klagt das Meer.
Das Feuer, dies sanfte Delirium.
Der Abendhauch stürzt einen Felsen um.

ca. 1990

aus: Elisabeth Borchers: Was ist die Antwort, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1998

 

Konnotation

Es ist heute kaum mehr zu begreifen, dass eine so stille und diskrete Dichterin wie die 1926 geborene Elisabeth Borchers den turbulentesten Lyrik-Skandal der Nachkriegszeit provoziert hat. Am 20. Juli 1960 veröffentlichte die FAZ ihr zart-surrealistisches Wiegenlied „eia wasser regnet schlaf“ – und löste damit einen mittleren Volksaufstand aus. In den folgenden Gedichtbüchern zog sich die Autorin immer mehr auf eine Poesie der meditativen Verknappung zurück.
Die katastrophische Situation des Planeten hat hier die Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft in Mitleidenschaft gezogen. Das Gedicht, um 1990 entstanden, hat sich als Zeitform noch das Präsens bewahrt, während der Gedichttitel schon vom „Eindringen des Imperfekts“, also von der Erde in der Vergangenheitsform spricht. Aber noch in der Situation des Untergangs leuchtet die Schönheit und Erscheinungsvielfalt der Welt auf.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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