Emmy Hennings’ Gedicht „Die vielleicht letzte Flucht“

EMMY HENNINGS

Die vielleicht letzte Flucht

O Ihr Heiligen mit den kostbaren Namen,
Die alle über den Kreuzweg kamen.
Ich vergaß meine Wege,
Ging still durchs Dornengehege
Schmerzlichster Abtötung.
Ich bin im Dunkeln,
Und keine Sterne funkeln
In meine Dämmerung.
Das Gesicht zur Wand gekehrt,
Verlöscht mein Feuer auf dem Herd.
Ich bin jetzt nichts mehr wert.

1915/1916

aus: Emmy Hennings: … Ich bin so vielfach … Texte, Bilder, Dokumente. Hrsg. v. Bernhard Echte. Stroemfeld Verlag, Basel/Frankfurt a.M. 1998

 

Konnotation

Der mystische Katholizismus der Schauspielerin und Dichterin Emmy Hennings (1885–1948) hat die Hüter der reinen Lehre der Avantgarde zutiefst verstört. Als exzentrische Diseuse und Gelegenheitsprostituierte stieg Hennings um 1910 zur Muse der aufstrebenden Dichter-Community im Münchner Simplicissimus und im Berliner Café des Westens auf. Dann aber vollzog die drogensüchtige Lebefrau eine Kehrtwende hin zu einer tiefen Frömmigkeit: Im Juli 1911 ließ sie sich katholisch taufen.
Im Zuge der Gründung des dadaistischen Cabaret Voltaire in Zürich schrieb Hennings um 1915/16 auch einige Texte, die ihre religiöse Verinnerlichung dokumentieren. Die Anrufung der katholischen Heiligen und ihrer schmerzvollen Biografien erbringt hier aber keinen metaphysischen Trost. Stattdessen sieht sich das lyrische Subjekt einen selbstdestruktiven Weg „schmerzlichster Abtötung“ gehen, an dessen Ende die Negierung des eigenen Ich steht. Das Dasein erscheint als endloses Martyrium, als Gang durch ein „Dornengehege“ leidvoller Erfahrungen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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