Emmy Hennings’ Gedicht „Morfin“

EMMY HENNINGS

Morfin

Wir warten auf ein letztes Abenteuer
Was kümmert uns der Sonnenschein?
Hochaufgetürmte Tage stürzen ein
Unruhige Nächte – Gebet im Fegefeuer.

Wir lesen auch nicht mehr die Tagespost
Nur manchmal lächeln wir still in die Kissen,
Weil wir alles wissen, und gerissen
Fliegen wir hin und her im Fieberfrost.

Mögen Menschen eilen und streben
Heut fällt der Regen noch trüber
Wir treiben haltlos durchs Leben
Und schlafen, verwirrt, hinüber…

1916

aus: Sprachspeicher. 200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert, hrsg. v. Thomas Kling, DuMont Buchverlag, Köln 2001

 

Konnotation

Am 1. Mai 1916 hatten die Pioniere der Avantgarde im Zürcher Cabaret Voltaire eine erste „Sammlung künstlerischer und literarischer Beiträge“ veröffentlicht – die erste Vorschau auf die revolutionären Schreibbewegungen des 20. Jahrhunderts. In dieser Sammlung ist auch die Dichterin und Diseuse Emmy Hennings (1885–1948) vertreten, die Lebensgefährtin Hugo Balls, eine sehr exzentrische Künstlerin, gerühmt als „erotisches Genie“ (Erich Mühsam) mit einer „dünnen, anti-divahaften Stimme“ (Hans Richter).
Seit 1910 nimmt Emmy Hennings teil an den ausschweifenden Suchbewegungen der literarischen Bohème nach neuen unerhörten Erfahrungen, die alle bürgerliche Normalität aus den Angeln heben. Zu den Experimenten der Sinn-Sucher gehören auch Gelegenheitsprostitution und Drogensucht – die in eine tiefe Lebensmüdigkeit einmündet. Es geht also um Grenzerfahrungen: Auf der Suche nach dem „letzten Abenteuer“ treiben die Morfinisten „haltlos durchs Leben“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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