Emmy Hennings’ Gedicht „Tänzerin“

EMMY HENNINGS

Tänzerin

Dir ist als ob ich schon gezeichnet wäre
und auf der Totenliste stünde.
Es hält mich ab von mancher Sünde.
Wie langsam ich am Leben zehre.
Und ängstlich sind oft meine Schritte,
Mein Herz hat einen kranken Schlag
und schwächer wird’s mit jedem Tag.
Ein Todesengel steht in meines Zimmers Mitte.
Doch tanz ich bis zur Atemnot.
Bald werde ich im Grabe liegen
Und niemand wird sich an mich schmiegen.
Ach, küssen will ich bis zum Tod.

1913

aus: Emmy Ball-Hennings: „… ich bin so vielfach…“. Texte, Bilder, Dokumente. Zusammengestellt v. B. Echte. Stroemfeld, Basel 1999

 

Konnotation

Gegen den Widerstand ihrer Eltern entschied sich Emmy Hennings (1885–1948) schon früh für die Schauspielerei. Zunächst tingelte sie als Aktrice einer Wandertheatertruppe durch Norddeutschland, ab 1908 faszinierte sie als attraktive Chansonette und „erotisches Genie“ (Erich Mühsam) die Boheme-Szene Berlins. Durch exzessiven Konsum von Morphium und Kokain geriet sie dabei an den Rand des Abgrunds.
1911 ließ sich Emmy Hennings zur Überraschung ihrer Verehrer katholisch taufen; 1913 glaubte sie im späteren Dada-Mystiker Hugo Ball (1886–1927) den Mann gefunden zu haben, „mit dem ich beten konnte“. 1913 veröffentlichte sie auch ihr Debütbuch Die letzte Freude, in dem sie mit ihren Hedonismen abrechnete. Auch das autobiografische Bekenntnis der „Tänzerin“ (ursprünglich trug das Gedicht den Titel „Cabaret Royal-Orpheum“) gehört zu den düsteren Introspektionen ihres Erstlings.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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