Erich Frieds Gedicht „Markttag“

ERICH FRIED

Markttag

Sie stellen sich an
vor den Tischen
wo Mitschuld verkauft wird
sie zahlen mit Blut
mit ihrem
und auch mit deinem

Ich wende mich ab
und seh
aus dem Augenwinkel
vorn in der Reihe
mich stehen
mit Messer und Krug

1948

aus: Erich Fried: Befreiung von der Flucht. Gedichte und Gegengedichte. Claassen Verlag, 1968

 

Konnotation

Es ist der imaginäre Handelsplatz der Zeitgeschichte, den der Dichter Erich Fried (1921–1988) in einem seiner parabelhaften Gedichte heraufbeschwört: Auf diesem Markt wird „Schuld“ und „Mitschuld“ verkauft, das Zahlungsmittel ist Blut. Der Text steht in Frieds Gedichtband Befreiung von der Flucht (1968) am Anfang des Kapitels „Spur des Krieges“. Einigen Gedichten aus den Jahren 1946 bis 1957, die er in seinem Londoner Exil geschrieben hatte, stellte Fried in diesem Buch dezidiert aufklärerische „Gegengedichte“ gegenüber.
Die klare Abgrenzung des Ich gegen die offenbar schuldig gewordenen „Sie“, wie sie noch die erste Strophe des 1948 entstandenen Gedichts andeutet, ist fragwürdig geworden. Am Ende sieht sich das Ich, das die rituellen jüdischen Symbole Messer und Krug bei sich trägt, an den Tischen der Mitschuld-Händler stehen. In einer Anmerkung zum Gedicht schreibt Fried: „Reflexion über die Kollektivschuld – die Deutschen nach dem 2. Weltkrieg, und dann plötzlich auch über die eigene, z.B. als Jude.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00