Erich Mühsams Gedicht „Was ist der Mensch?“

ERICH MÜHSAM

Was ist der Mensch?

Was ist der Mensch? Ein Magen, zwei Arme,
ein kleines Hirn und ein großer Mund,
und eine Seele – daß Gott erbarme! –

Was muß der Mensch? Muß schlafen und denken,
muß essen und feilschen und Karren lenken,
muß wuchern mit seinem halben Pfund.
Muß beten und lieben und fluchen und hassen,
muß hoffen und muß sein Glück verpassen –
und leiden wie ein geschundner Hund.

1914

 

Konnotation

Eine wilde Wirrnis von widerborstigem graurotem Haupt- und Barthaar über einem sehr ungebügelten Konfektionsanzug, die todernst Schüttelreime vortrug“ – so charakterisierte ein Zeitgenosse den Dichter, Freigeist und späteren Sozialrevolutionär Erich Mühsam (1873–1934), der sich in Berliner Boheme-Kreisen als lyrischer „Pilger, der sein Ziel nicht kennt“ vorstellte. Im umfassenden Auswahlband Wüste – Krater – Wolken von 1914 stellte Mühsam die Frage nach der Natur des Menschen.
In der ersten Strophe zitiert Mühsam das theologische Menschenbild von der Existenz eines Körpers und einer unvergänglichen Seele, um im zweiten Abschnitt ganz lakonisch die Vergeblichkeit der menschlichen Glückssuche zu benennen und den Menschen als prinzipiell leidendes Subjekt zu charakterisieren. Von einer Heilsgeschichte marxistischer Provenienz ist Mühsam hier denkbar weit entfernt. Einer seiner Weggefährten, der Anarchist Gustav Landauer notierte dazu: „Alles in allem: Du hast Deinen Menschen herausgeschrieen, und es ist ein wertvoller Mensch.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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