Ernst Jandls Gedicht „an gott“

ERNST JANDL

an gott

daß an gott geglaubt einstens er habe
fürwahr er das könne nicht sagen
es sei einfach gewesen gott da
und dann nicht mehr gewesen gott da
und dazwischen sei garnichts gewesen
jetzt aber er müßte sich plagen
wenn jetzt an gott glauben er wollte
garantieren für ihn könnte niemand
indes vielleicht eines tages
werde einfach gott wieder da sein
und garnichts gewesen dazwischen

nach 1970

aus: Ernst Jandl: poetische werke Bd. VIII, hrsg. v. Klaus Siblewski, Luchterhand Literaturverlag, München 1997

 

Konnotation

Um ihre eigene Sprache zu finden, kehrt die moderne Lyrik immer wieder zur Symbolwelt der christlichen Tradition zurück. Ein Gedicht ist immer auch ein Gebet – selbst wenn die skeptische Frage nach der Präsenz Gottes zunächst negativ beantwortet wird. Im Spätwerk des österreichischen Sprachvirtuosen Ernst Jandl (1925–2000) gibt es häufig solche verzweifelten Klagen über die Gottverlassenheit.
Der hier in indirekter Rede wiedergegebene Sprecher des Gedichts räsoniert unsystematisch über die Abwesenheit und Anwesenheit Gottes, und seine Skepsis scheint groß zu sein. Jandl gibt diesen spontanen Diskurs in holprig wirkender Umgangssprache wieder. Aber die metaphysische List des in den 1970er Jahren entstandenen Gedichts besteht darin, dass alles in den Konjunktiv gerückt wird: Auch eine Wiederkehr Gottes wird nicht ausgeschlossen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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