Ernst Jandls Gedicht „geistliches lied“

ERNST JANDL

geistliches lied

überall wohin ich späh
seh ich engel in der näh
außerhalb der schranken mein
werd ich wohl verlassen sein
schranken baute mutters hand
eh der tod sie überwand
sie nur kannte gottes land
ach, es raubt mir den verstand

ach, es raubt mir den verstand
sie nur kannte gottes land
eh der tod sie überwand
baute schranken mutters hand
nie werd ich verlassen sein
außerhalb der schranken mein
seh ich engel in der näh
überall wohin ich späh

1987/88

aus: Ernst Jandl: poetische werke. Hrsg. v. Klaus Siblewski. Luchterhand Literaturverlag, München 1997

 

Konnotation

Geistliche Lieder“ hat Ernst Jandl (1925–2000) in seinen späten Gedichtbüchern viele gesungen – das waren grimmige Gebete in der Haltung Hiobs, schwankend zwischen zorniger Gottesanrufung und lästerlichem Fluch. Sein um 1987/88 entstandenes Rondo, in dem die zweite Strophe spiegelbildlich den Text der ersten wiederholt, spricht zwar von einer Präsenz himmlischer Wesen, der Engel. Aber selbst diese Himmelsboten können die Verlassenheit des lyrischen Ich nicht aufheben.
In diesem „geistlichen Lied“ bevorzugt Jandl den fast litaneihaften Klageton; in anderen religiösen Gedichten verlegt er sich auf zornig-blasphemische Sentenzen; aber selbst in der wütenden Verneinung des Christlichen ist die Sehnsucht nach einer göttlichen Nähe spürbar.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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