Eugen Roths Gedicht „Der Unentschlossene“

EUGEN ROTH

Der Unentschlossene

Ein Mensch ist ernstlich zu beklagen,
Der nie die Kraft hat, nein zu sagen,
Obwohl er’s weiß, bei sich ganz still:
Er will nicht, was man von ihm will!
Nur, daß er Aufschub noch erreicht,
Sagt er, er wolle sehn, vielleicht…
Gemahnt, nach zweifelsbittern Wochen,
Daß er’s doch halb und halb versprochen,
Verspricht er’s, statt es abzuschütteln,
Aus lauter Feigheit zu zwei Dritteln,
Um endlich, ausweglos gestellt,
Als ein zur Unzeit tapfrer Held
In Wut und Grobheit sich zu steigern
Und das Versprochne zu verweigern.
Der Mensch gilt bald bei jedermann
Als hinterlistiger Grobian –
Und ist im Grund doch nur zu weich,
Um nein zu sagen – aber gleich!

1930er Jahre

aus: Eugen Roth: Sämtliche Werke. Bd. 2: Gedichte. Carl Hanser Verlag, München 1977

 

Konnotation

Die Unfähigkeit, „Nein“ zu sagen, kann ganze Biografien verfinstern. Es gibt den Typus des menschenfreundlichen Zauderers, der aus falsch verstandenem Großmut seinen Freunden, Bekannten, Vorgesetzten oder Auftraggebern die Erfüllung von unangenehmen oder auch unerfüllbaren Aufträgen in Aussicht stellt und dann aber an der eigenen Überforderung scheitert. Die Strategie des Aufschubs verschafft nur letztlich prekäre Atempausen, die in der irgendwann eintretenden ausweglosen Lage auch nicht mehr helfen.
Der scharfsinnige Spruch-Dichter und humoristische Aphoristiker Eugen Roth (1895–1976) hat hier das definitive Porträt des „Unentschlossenen“ entworfen. Aber er fügt noch eine fatalistische Pointe hinzu: Nicht nur, dass sich der Unentschlossene durch seine Unfähigkeit zum „Nein“ in eine ausweglose Lage manövriert. Am Ende ist auch sein Image ruiniert: Der Menschenfreund gilt als Misanthrop.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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