Eugen Roths Gedicht „Märchen“

EUGEN ROTH

Märchen

Ein Mensch, der einen andern traf,
geriet in Streit und sagte: „Schaf!“
Der andre sprach: „Es wär’ Ihr Glück,
Sie nähmen dieses Schaf zurück!“
Der Mensch jedoch erklärte: Nein,
er säh dazu den Grund nicht ein.
Das Schaf, dem einen nicht willkommen,
vom andern nicht zurückgenommen,
steht seitdem, herrenlos und dumm
unglücklich in der Welt herum.

nach 1933

aus: Eugen Roth: Sämtliche Werke. Bd. 2.: Gedichte. Carl Hanser Verlag. München 1977

 

Konnotation

Nachdem er schwer verletzt den Ersten Weltkrieg überlebt hatte, hielt der promovierte Philosoph und Schriftsteller Eugen Roth (1895–1976) zeitlebens an einer antimilitaristischen Überzeugung fest. Das führte nach der Machtergreifung der Nazis 1933 zu seiner sofortigen Entlassung als Lokaljournalist bei den Münchner Neuesten Nachrichten. Roth reagierte auf eine listige Art: Er begann mit humoristischen Versen, die sich betont unpolitisch gaben, zugleich aber den heroischen „neuen Menschen“ des Nazi-Staats aushebelten.
Nach zahlreichen Ablehnungen der „Mensch“-Gedichte traute sich erst 1935 der Verleger Alexander Dunker, die so harmlos-anekdotisch wirkenden Texte, die aber von einem „politisch unzuverlässigen Subjekt“ – so der Nazi-Vorwurf – stammten, zu veröffentlichen. Das wurde zum Ausgangspunkt einer ungewöhnlichen Erfolgsgeschichte. Roths Verse vom „vergeblichen Heldentum“ und dem notorischen Ungeschick des Menschen wurden innerhalb weniger Jahre 500.000 mal verkauft – auch nach 1945 blieb Roths Popularität ungebrochen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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