Frank Wedekinds Gedicht „Der Andere“

FRANK WEDEKIND

Der Andere

Nirgends vergißt sich so leicht
Der Liebe Lust, der Liebe Schmerz
Wie in den Armen eines andern.

Schwarz war dein Auge, mein Freund,
Schwarz wie die Nacht, wolkenumhüllt.
Blau strahlt das Auge des andern.

Keiner wohl küsste wie du,
Sanft wie ein Hauch am Maientag.
Stürmischer jetzt küßt mich der andre.

Treulos und falsch war dein Herz.
Doch auch dafür find’ ich Ersatz,
Denn schon betrügt mich der andre

um 1900

 

Konnotation

Ist es ein offensives Bekenntnis zur Einheit von Liebe und Verrat, von Eros und Untreue? Und wer spricht überhaupt in diesem Gedicht: Der Dichter selbst, der die Erfahrungen der erotischen Freizügigkeit und des ständigen Partnerwechsels besingt? Oder nur ein Rollen-Ich, dessen Lebensform der Untreue kritisch vorgeführt wird? Die deutsche Gesellschaft der Jahrhundertwende kam jedenfalls mit den frivolen Provokationen des Dichters und Dramatikers Frank Wedekind (1864–1918) nicht zurecht.
Die Jagd nach sexuellen Ersatzverzauberungen, von der hier die Rede ist, kam erst hundert Jahre nach Niederschrift dieses Gedichts – es entstand wohl kurz vor der Jahrhundertwende – zur vollen gesellschaftlichen Entfaltung. Eine besondere Pointe des Gedichts liegt darin, dass offen bleibt, ob hier ein männliches oder ein weibliches Ich über seine Erfahrungen mit Liebe, Schmerz und Betrug spricht. Es bleibt also in der Schwebe, ob hetero- oder aber homo-sexuelle Liebesnarren angesprochen werden – auch das damals eine unerhörte Provokation.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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