Franz Werfels Gedicht „Traumstadt eines Emigranten“

FRANZ WERFEL

Traumstadt eines Emigranten

Ja, ich bin recht, es ist die alte Gasse.
Hier wohn ich dreißig Jahr ohn Unterlaß…
Bin ich hier recht?? Mich treibt ein Irgendwas,
Das mich nicht losläßt, mit der Menschenmasse.

Da, eine Sperre starrt… Eh ich mich fasse,
Packts meine Arme: „Bitte, Ihren Paß!“
Mein Paß? Wo ist mein Paß!? Von Hohn und Haß
Bin ich umzingelt, wanke und erblasse…

Kann soviel Angst ein Menschenmut ertragen?
Stahlruten pfeifen, die mich werden schlagen,
Ich fühl noch, daß ich in die Kniee brach…

Und während Unsichtbare mich bespeien:
„Ich hab ja nichts getan“, – hör ich mich schreien,
„Als daß ich eure, meine Sprache sprach.“

1938

aus: Franz Werfel: Das lyrische Werk, hrsg. v. Adolf D. Klarmann, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1967

 

Konnotation

Die Aufgabe der Kunst ist es“, so resümierte Franz Werfel (1890–1945) auf dem Höhepunkt seines Ruhms, „der Welt Gottes ein Gleichnis des Menschen entgegenzustellen.“ Eine tiefe Frömmigkeit durchzieht von Beginn an das Werk des Dichters der in einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus in Prag aufwuchs, aber von seiner tschechischen Kinderfrau nach katholischer Glaubenslehre erzogen wurde. Dichterisch exponierte sich der Freund Kafkas und Max Brods zunächst als Prophet eines pathetischen Expressionismus.
Nach 1938 war der „Nicht-Arier“ vor dem Zugriff der Nazis auch in Österreich nicht mehr sicher, und gelangte nach einer abenteuerlichen Flucht durch Frankreich in die USA. Im Sommer 1938 verfasste Werfel sein erschütterndes Sonett über die Situation eines Emigranten, der in seiner Wahlheimat entwürdigenden Schikanen unterzogen wird. Ein Jahr später, im September 1939, widerfuhr Werfel in seinem französischen Exilort Sanary-sur-mer am eigenen Leib der Alptraum seines Emigranten. Auf offener Straße wurde er verhaftet und im Polizeipräsidium als Kommunist beschimpft.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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