Friederike Mayröckers Gedicht „wenn ich davongegangen sein werde“

FRIEDRIKE MAYRÖCKER

wenn ich davongegangen sein werde

wenn ich davongegangen sein werde
werde ich die Bilder behalten wirst du die Bilder behalten?
Bilder von der Welt Bilder von den Menschen die ich geliebt
die gesprochen haben zu mir –
ich wünsche mir die Bilder behalten zu können, nachher,
wo ich doch jetzt in so groszem Masze mit Bildern lebe
mit Worten die gesprochen wurden zu mir vor 4 oder 5
Jahrzehnten mit Blicken von damals Bildern von damals
Orte Linien Landschaften, Tücher in Händen winkende Tücher
Küsse und Tränen Rufe Umarmungen, graue Spätnachmittage
sanfte Umrisse des Himmels der Erde, am gestrigen
Morgen gefunden 1 silbernes Haar im Kamm der Mutter viele
Monate nach ihrem Tod

1996

aus: Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2004

 

Konnotation

Ein Gedicht, das mit der sehr seltenen Zeitform des Futur II arbeitet: mit der Vor-Erinnerung an die Zeit nach dem eigenen Tod. Das Ich der Dichterin Friederike Mayröcker (geb. 1924), das immer sehr nahe am empirischen Ich der Autorin angesiedelt ist, fürchtet um den Verlust des Bilder-Reichtums, der in den literarischen Arbeiten und Imaginationen sich angesammelt hat. Werden die visuellen Bilder und die inneren Bilder, die poetischen Vergegenwärtigungen und die Erinnerungen an die Kindheit verloren gehen?
Erst die beiden Schlusszeilen des im März 1996 entstandenen Gedichts machen sichtbar, was den Strom der Erinnerungen ausgelöst bat es ist der Fund eines unscheinbaren Gegenstands, eines silbernen Haars im Kamm der toten Mutter. Und sofort öffnet sich die „mémoire involontaire“, die unwillkürliche Erinnerung des unentwegt literarisch assoziierenden Ich.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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