Friedrich Christian Delius’ Gedicht „Ein Bankier auf der Flucht“

FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS

Ein Bankier auf der Flucht

Ganz sicher, er war es. Vor kurzem noch im Fernsehn,
jetzt sehn wir ihn im Schwarzwald zu Fuß
und abgehetzt, Dreck an den Schuhn, sehn ihn allein
mit einem Koffer, Richtung Süden, kein Gespenst.
Schweiz oder Liechtenstein? Warum hat er nicht
wenigstens seinen Chauffeur bei sich und
den Mercedes? Warum nimmt er nicht die Bahn? Warum
vertraut er sich nicht einem ortskundigen CDU-Landwirt an?
Warum dieser ängstliche Blick, diese Hast?
Ein Wanderer würde anders laufen und ohne
diesen Koffer. Wer vor seiner Frau oder Geliebten
abhaut, haut nicht über Feldwege ab.
Warum schlägt er den Mantelkragen hoch?
Erschrickt der vor uns? Seit wann gehören
Bankiers zu den Angsthasen? Kommen jetzt noch mehr
flüchtende Bankchefs hier vorbei und stören
Spaziergänger auf? Schreiben wir das Jahr 74 oder
1929 oder 1986, oder was ist hier eigentlich los?

1975

aus: F.C. Delius: Selbstporträt mit Luftbrücke. Ausgewählte Gedichte. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1992

 

Konnotation

Literatur und Fahndung“: Dieser Titel einer literaturwissenschaftlichen Studie benannte 1978 polemisch die Fixierung des öffentlichen und auch des intellektuellen Bewusstseins auf die Verfolgung flüchtiger RAF-Terroristen. In dieser Zeit der Staatsfeind-Hysterie entsteht das Gedicht von Friedrich Christian Delius (geb. 1943), der sich in den 1970er Jahren selbst als „freier Mitarbeiter der Klassenkämpfe“ verstand. Nur scheint das lyrische Ich diesmal keinen Staatsfeind, sondern einen Repräsentanten des Kapitalismus auf der Flucht zu beobachten.
Da das Gedicht innerhalb des 1975 erschienenen Lyrikbandes Ein Bankier auf der Flucht in der Nachbarschaft vieler dokumentarisch orientierter Texte steht, ist man zunächst versucht, diesen Text als kaum chiffriertes Protokoll einer spektakulären Kapitalisten-Flucht zu lesen. Bei wiederholter Lektüre entdeckt man, dass Delius die Reflexe einer hysterisierten Wahrnehmung ironisiert. Ein Fußreisender im Schwarzwald erscheint dem televisionär kolonisierten Bewusstsein sofort als Täter.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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