Friedrich Hebbels Gedicht „Ich und Du“

FRIEDRICH HEBBEL

Ich und Du

Wir träumten voneinander
Und sind davon erwacht,
Wir leben, um uns zu lieben,
Und sinken zurück in die Nacht.

Du tratst aus meinem Traume,
Aus deinem trat ich hervor,
Wir sterben, wenn sich eines
Im andern ganz verlor.

Auf einer Lilie zittern
Zwei Tropfen, rein und rund,
Zerfließen in Eins und rollen
Hinab in des Kelches Grund.

1843

 

Konnotation

Im Traum und im Wachbewusstsein sind die beiden Liebenden dieses Gedichts von Friedrich Hebbel (1813–1863) miteinander verschmolzen: Traum und Erwachen fallen in diesem um 1843 entstandenen Gedicht ebenso ineinander wie die Erfüllung und das blitzhafte Vergehen des Liebesaugenblicks.
Die poetisch wie philosophisch durchgeführte symbiotische Verklammerung der beiden Liebenden wird dann in der dritten Strophe auch noch durch eine Allegorie aufgeladen: Das Ich und das Du sind nun in einem ziemlich plakativen Denkbild zu zwei Tropfen geworden, die auf einer Blume zusammenfließen und gemeinsam „in des Kelches Grund“ hinabrollen. Hier wir Rede dekorativ und auch ein bisschen kitschig: Der in den ersten beiden Strophen entwickelten Bildlichkeit wird hier nur ornamental etwas hinzugefügt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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