Friedrich Hölderlins Gedicht „Aussicht“

FRIEDRICH HÖLDERLIN

Aussicht

Der offne Tag ist Menschen hell mit Bildern,
Wenn sich das Grün aus ebner Ferne zeiget,
Noch eh des Abends Licht zur Dämmerung sich neiget,
Und Schimmer sanft den Klang des Tages mildern.
Oft scheint die Innerheit der Welt umwölkt, verschlossen,
Des Menschen Sinn von Zweifeln voll, verdrossen,
Die prächtige Natur erheitert seine Tage
Und ferne steht des Zweifels dunkle Frage.

Den 24. März 1671      Mit Untertänigkeit
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaScardanelli

nach 1837

 

Konnotation

Es gibt ein lapidares Protokoll über die Entstehung der späten Gedichte Friedrich Hölderlins (1770–1843), die dieser nach 1807 in seinem Tübinger Turmzimmer am Neckar geschrieben hat: Sein Betreuer Ernst Zimmer berichtet dort, dass Hölderlin nach Aufforderung, ein Gedicht zu schreiben, das Fenster seines Zimmers öffnete, einen Blick ins Freie tat und nach etwa „12 Minuten“ seinen Text abschloss. Trotz Krankheit und Verwirrung des Dichters entstanden auf diese Weise so zauberhafte Poeme wie das vermutlich zwischen 1837 und 1839 entstandene Poem „Aussicht“.
Der Hölderlin-Biograph Pierre Bertaux hat die Vermutung geäußert, dass der Dichter mit diesen auf Bestellung geschriebenen Gelegenheitsgedichten, die er mit dem fiktiven Namen „Scardanelli“ signierte und meist ins 17. oder 18. Jahrhundert zurückdatierte, sich zudringliche Besucher vom Leib halten wollte. Und doch geht von diesen meist in jambischem Versmaß gehaltenen Naturbildern ein eigentümlicher Zauber aus.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00