Friedrich Nietzsches Gedicht „Pinie und Blitz“

FRIEDRICH NIETZSCHE

Pinie und Blitz

Hoch wuchs ich über Mensch und Tier;
Und sprech ich – niemand spricht mit mir.

Zu einsam wuchs ich und zu hoch –
Ich warte: worauf wart’ ich doch?

Zu nah ist mir der Wolken Sitz, –
Ich warte auf den ersten Blitz.

1882

 

Konnotation

Schon als junger Mensch hat Friedrich Nietzsche (1844–1900) den „freien Tempel der Natur“ und das „wilderhabene“ von Blitz und Donner als idealische Antriebskräfte seines Denkens bestimmt. Im Schlüsseljahr 1882 lernt er die russische Schriftstellerin Lou-Andreas Salomé kennen und scheitert mit zwei Heiratsanträgen. Um diese Zurückweisung zu verarbeiten, setzt er ein philosophisches „Bollwerk gegen das Unerträglichste“: den Zarathustra – und die Idee vom „Übermenschen“. Poetisch soll ihn ein Blitz retten.
Am Übergang zur Idee vom „Übermenschen“ steht dieses im Sommer oder Herbst 1882 entstandene Fragment, in dem sich das Ich zur hervorgehobenen Gestalt gegenüber seiner Mitwelt stilisiert. Der einsame „Übermensch“ ist hier schon als poetische Figur entwickelt. Knapp unterhalb des Himmels nimmt das „zu hoch“ aufgestiegene Subjekt eine Warteposition ein – und wartet auf das erlösende Unwetter.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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