Friedrich Nietzsches Gedicht „Sils-Maria“

FRIEDRICH NIETZSCHE

Sils-Maria

Hier saß ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts,
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts
Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.
Da plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei –
– Und Zarathustra ging an mir vorbei

1887

 

Konnotation

In seinem Refugium im Hochgebirge des Schweizer Engadin hat der Dichter, Denker und Philosophie-Zertrümmerer Friedrich Nietzsche (1844–1900) sein berühmtestes Gedicht angesiedelt. In Zwiesprache mit sich und der Natur gelangt hier ein einsamer Spaziergänger zu letzter Klarheit und Ruhe.
Das Ich, dem Nietzsche hier das Wort erteilt, steht im vollkommenen Einklang mit den Elementen. Ihm widerfährt das Glück des Wartens und absichtslosen Verharrens in der Helle eines Mittags. Der Wartende ist nicht mehr getrieben von Plänen oder Zielen, sondern findet zur Möglichkeit des Genießens in einer „Zeit ohne Ziel“. Im erfüllten Augenblick dieser mystischen Introversion offenbart sich auch die Begegnung mit Zarathustra, jener Gestalt aus Nietzsches Philosophie, mit der sich der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen verbindet. Das „Sils-Maria“-Gedicht veröffentlichte Nietzsche 1887 im Anhang zur zweiten Auflage seiner Fröhlichen Wissenschaft, unter den „Liedern des Prinzen Vogelfrei“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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