Friedrich Rückerts Gedicht „Auf Erden gehest du“

FRIEDRICH RÜCKERT

Auf Erden gehest du

Auf Erden gehest du und bist der Erde Geist;
Die Erd erkennt dich nicht, die dich mit Blüten preist.

Auf Sonnen stehest du und bist der Sonne Geist;
Die Sonn erkennt dich nicht, die dich mit Strahlen preist.

Im Winde wehest du und bist der Lüfte Geist;
Die Luft erkennt dich nicht, die dich mit Atmen preist.

Auf Wassern gehest du und bist des Wassers Geist;
Das Wasser kennt dich nicht, das dich mit Rauschen preist.

Im Herzen stehest du und bist der Liebe Geist;
Und dich erkennt das Herz, das dich mit Liebe preist.

um 1835

 

Konnotation

„WeltPoesie / Allein ist Weltversöhnung“, hat der polyglotte Spätromantiker und Orientalist Friedrich Rückert (1788–1866) im Vorspiel zu einem „chinesischen Liederbuch“ behauptet. In Rekordzeit erlernte dieses Sprachgenie Türkisch, Persisch und Arabisch und übersetzte mehr als 100.000 Verse. In seinem monumentalen Hauptwerk, dem Lehrgedicht „Die Weisheit des Brahmanen“ (1836–39), hat Rückert religiöse Überlieferungen aus allen Weltreligionen verarbeitet.
Eine universalpoetische Anstrengung wie dieses Brahmanen-Versepos hat es in der Literaturgeschichte selten gegeben: Am Ende waren es über 2.700 Gedichte, in denen Rücken Motive aus der Hindu-Literatur, den Heiligen Schriften von Islam und Christentum und anderen theologischen Denkfiguren der abendländischen Philosophie versammelte. Das Gedicht offenbart eine pantheistische Haltung Rückerts: Denn hier ist der Gott, der als „Du“ angesprochen wird, in allen irdischen Erscheinungen und Elementen gegenwärtig.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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