Friedrich Rückerts Gedicht „Ich bin der Welt abhanden gekommen“

FRIEDRICH RÜCKERT

Ich bin der Welt abhanden gekommen

Ich bin der Welt abhanden gekommen,
aaaMit der ich sonst viele Zeit verdorben.
aaaSie hat solange von mir nichts vernommen,
aaaSie mag wol glauben, ich sei gestorben.

Es ist mir auch gar nichts daran gelegen,
aaaOb sie mich für gestorben hält.
aaaIch kann auch gar nichts sagen dagegen,
aaaDenn wirklich bin ich gestorben der Welt.

Ich bin gestorben dem Weltgewimmel,
aaaUnd ruh’ in einem stillen Gebiet.
aaaIch leb’ in mir und meinem Himmel,
aaaIn meinem Lieben, in meinem Lied.

1821

 

Konnotation

Der radikale Rückzug aus dem „Weltgewimmel“ in die Abgeschiedenheit ist ein Lebensmodell, das viele Romantiker propagiert haben. Der habilitierte Altphilologe, Orientalist und Dichter Friedrich Rückert (1788–1866) hat diese Weltabgewandtheit jahrelang als Privatgelehrter produktiv gemacht, ein polyglotter Solitär, den selbst in seiner Zeit als Professor für orientalische Sprachen in Erlangen und Berlin kaum jemand aus seiner Verborgenheit hervorlocken konnte.
1821, im Jahr seiner Heirat mit Luise Wiethaus-Fischer, schrieb Rückert nicht nur seinen Zyklus „Liebesfrühling“, sondern auch dieses Plädoyer für die schöpferische Einsamkeit in himmlischer Ruhe. 1901 hat Gustav Mahler eins seiner intensivsten Lieder auf Rückerts Poem komponiert, eine spätromantische Tondichtung von artistischer Einfachheit. 1922 schließlich identifiziert sich Thomas Manns Zauberberg-Held Hans Castorp mit Rückerts Gedicht und bilanziert: „So steht es mit mir.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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