Gerhard Rühms Gedicht „tisch und stuhl“

GERHARD RÜHM

tisch und stuhl

tisch und stuhl
stehen schwul
im raum herum
und glotzen dumm

trotz beinen vier
kann ich nicht zu dir
warum sind wir
kein tier

bei tages licht
bemerkt man es nicht
da hockt ein gewicht
auf unserm gesicht

doch bei nacht
erwacht es mit macht
man schaut sich an
und kommt nicht heran

1965

aus: Gerhard Rühm: Geschlechterdings. Chansons, Romanzen, Gedichte. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1990

 

Konnotation

In seinen Chansons und Moritaten hat sich Gerhard Rühm (geb. 1930), der immer noch zu Überraschungen fähige Altmeister der experimentellen Dichtung, vom Reimzwang zu höchst originellen Pointen treiben lassen. 1965 entstand eine überaus komische Kurz-Ballade von einem scheiternden Liebesverhältnis zwischen zwei Gebrauchsmöbeln. Dass Tisch und Stuhl hier nicht zueinander kommen, hat nicht nur physikalische Gründe, sondern erscheint fast schon als etwas tragisch Schicksalhaftes.
Es sind hier offenbar die Reimwörter selbst, die aus sich heraus die heiter-tragische Geschichte von Tisch und Stuhl generieren. Wenn der „stuhl“ zur Reimbildung fast automatisch die Fügung „schwul“ verlangt, auf ein Liebes-Thema auf. In den 1960er Jahren hat Gerhard Rühm sehr viele solcher absurd-komischen Gedichte in einfachen Formen geschrieben, die seine poetische Eleganz besser illustrieren also so manches angestrengt-experimentelle Exerzitium.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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