Gottfried Benns Gedicht „Eure Etüden“

GOTTFRIED BENN

Eure Etüden

Eure Etüden,
Arpeggios, Dankchoral
sind zum Ermüden
und bleiben rein lokal.

Das Krächzen der Raben
ist auch ein Stück –
dumm sein und Arbeit haben:
das ist das Glück.

Das Sakramentale –
schön, wer es hört und sieht,
doch Hunde, Schakale
die haben auch ihr Lied.

Ach, eine Fanfare,
doch nicht an Fleisches Mund,
daß ich erfahre,
wo aller Töne Grund.

1955

aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verb. m. Ilse Benn hrsg. von G. Schuster und H. Hof, Klett-Cotta, Stuttgart 1986

 

Konnotation

Ein Schlager von Klasse“, so dekretierte Gottfried Benn (1886–1956) in einem seiner späten Essays, „enthält mehr Jahrhundert als eine Motette“. Dabei hatte der bekennende Anhänger der „Artistenmetaphysik“ in früheren Arbeiten durchaus eine Zuneigung zu kanonischen Werken der Musikgeschichte erkennen lassen: zu Chopin, Hindemith oder Caruso. In seinem letzten Gedichtband Aprèslude (1955) hat Benn für die ehrwürdige Musiktradition nur noch ein Abwinken übrig.
Aber geht es hier überhaupt um Musik? Oder liefert dieses Motiv nur einen Vorwand für den lästerlichen Reim, der die Frage nach dem Glück und alle „sakramentale“ Erhabenheit lässig vom Tisch wischt: „dumm sein und Arbeit haben / das ist das Glück“? Dieses Bonmot setzt eine so grelle Pointe, dass man fast übersieht, dass der Dichter in der letzten Strophe wieder in einen hohe Tonlage wechselt. Plötzlich ist alle Lässigkeit verschwunden und ein biblischer Tonfall kehrt zurück – und mit ihm die Frage nach dem Urgrund aller Musik und alles Lebendigen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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