Gottfried Kellers Gedicht „Im Schnee“

GOTTFRIED KELLER

Im Schnee

Wie naht das finster türmende
Gewölk so schwarz und schwer!
Wie jagt der Wind, der stürmende,
Das Schneegestöber her!

Verschwunden ist die blühende
Und grüne Weltgestalt;
Es eilt der Fuß, der fliehende,
Im Schneefeld naß und kalt.

Wohl dem, der nun zufrieden ist
Und innerlich sich kennt!
Dem warm ein Herz beschieden ist,
Das heimlich loht und brennt!

Wo, traulich sich dran schmiegend, es
Die wache Seele schürt,
Ein perlend, nie versiegendes
Gedankenbrauwerk rührt!

1883

 

Konnotation

Bereits in seinen literarischen Anfängen hatte der Schweizer Dichter und Romancier Gottfried Keller (1819–1890) einen Zyklus mit „Gedanken eines Lebendig-Begrabenen“ (1846) verfasst. Melancholische Düsternisse, Todes- und Erlösungsphantasien prägen das Werk des Dichters, dem Liebeserfüllung zeit seines Lebens versagt blieb. So verwundert nicht, dass auch sein in den Gesammelten Werken von 1883 veröffentlichtes Wintergedicht in den ersten zwei Strophen Kältebilder versammelt, die dem finsteren Daseinsgefühl Kellers entsprechen.
Als Kunstmaler war Keller früh gescheitert, spätere Anläufe zu einer beruflichen Existenz blieben in Ansätzen stecken. „Ich habe wochenlang nicht nur kein Wort geschrieben, sondern auch keines gesprochen,“ notiert er 1855. Das späte Gedicht Kellers stellt immerhin etwas in Aussicht, das die winterliche Erstarrung löst und über die Melancholie hinausreicht: ein „heimlich lohendes“ Herz, eine Zufriedenheit, ein reanimiertes Denken.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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