Gotthold Ephraim Lessings Gedicht „Ich“

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING

Ich

Die Ehre hat mich nie gesucht;
Sie hätte mich auch nie gefunden.
Wählt man, in zugezählten Stunden,
Ein prächtig Feierkleid zur Flucht?

Auch Schätze hab ich nie begehrt.
Was hilft es sie auf kurzen Wegen
Für Diebe mehr als sich zu hegen,
Wo man das wenigste verzehrt?

Wie lange währt’s, so bin ich hin,
Und einer Nachwelt untern Füßen?
Was braucht sie wen sie tritt zu wissen?
Weiß ich nur, wer ich bin.

1752

 

Konnotation

Der Erkenntnishunger des Dichters, Theologen und Naturforschers Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) war schon in jungen Jahren kaum zu stillen, als er nach unruhigen Studienjahren in Leipzig und Berlin im April 1752 in Wittenberg zum Magister der Philosophie promoviert wurde. Am Ende seiner Wittenberger Zeit, im Oktober 1752, zieht Lessing eine erste Bilanz seiner vielfältigen Bemühungen, sich als Dichter und Publizist zu etablieren.
Der Aufklärer Lessing erteilt in diesem Gedicht allen Ehrbegriffen und ehrgeizigen merkantilen Bestrebungen der bürgerlichen Welt eine Absage. Es ist die Demonstration einer selbstbewussten poetischen Subjektivität, die hier gegen die alten, verbrauchten Werte des Adels und des Bürgertums antritt. Und selbst das Urteil der Nachwelt kann der stolze Ich-Sager dieses Gedichts gelassen erwarten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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