Günter Grass’ Gedicht „Glück“

GÜNTER GRASS

Glück

Ein leerer Autobus
stürzt durch die ausgesternte Nacht.
Vielleicht singt sein Chauffeur
und ist glücklich dabei.

ca. 1958/59

aus: Günter Grass: Werkausgabe in Einzelbänden, Bd. 1, Steidl Verlag, Göttingen 1998

 

Konnotation

Der junge Günter Grass war in seinen frühen Gedichten noch weit entfernt von der politischen Aufladung seiner Zentralmotive. 1927 in Danzig geboren, verlegte Grass nach seinem Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie seinen Wohnort nach Paris, wo die Gedichte des Bandes Gleisdreieck (1960) entstanden, in dem sein Text „Glück“ zu finden ist.
In Paris verfiel Grass der Faszination des Existenzialismus von Albert Camus und erfand lyrische Bilder für das Lebensgefühl einer zweifelnden Skepsis, die in der Absurdität des Daseins ohne transzendente Instanzen auskommen muss. So darf man sich den einsamen Busfahrer – wie Camus’ Figur des Sisyphos – als „einen glücklichen Menschen“ vorstellen. Wir geraten in einen Moment absoluter Einsamkeit: Der leere Autobus, der in heftiger Bewegung durch eine Nacht ohne Sterne „stürzt“, scheint ein völlig funktionsloses Objekt zu sein. Aber da ist ein „Vielleicht“, das für den einsamen „Chauffeur“ die Möglichkeit einer Glücksempfindung offen hält.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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