Günter Kunerts Gedicht „Zusammensetzspiel“

GÜNTER KUNERT

Zusammensetzspiel

Ein Mosaik aus Ich und Du,
aus Wir und Ihr und Augenzu,
aus Hängtihnauf und Schießtihntot,
aus Weiß- und Schwarz- und Kuchenbrot,
aus Himmel, Hölle, Erdensand,
aus Feindesfuß und Bruderhand,
aus Dir und Mir und Mein und Dein,
aus Traurig- und aus Glücklichsein:
setz zu dein Teilchen lebenslang
und kitt es mit Zusammenhang.

1980er Jahre

aus: Günter Kunert: Ich Du Er Sie Es. Ravensburger Buchverlag Otto Maier, Ravensburg 1988

 

Konnotation

Aus wie vielen unterschiedlichen Teilen lässt sich ein Mosaik des Menschenlebens zusammensetzen? In einem Kindergedicht hat Günter Kunert (geb. 1929) einige Stücke der Conditio humana ineinandergefügt, ohne gleich den apokalyptischen Fliehkräften nachzugeben, die seine Gedichte oft bestimmen. Es gibt zwar durchaus bedrohliche, destruktive Konstanten der menschlichen Existenz, etwa den Hang zum Töten oder zum Erfinden immer neuer Feinde. Aber es gibt auch Elemente, die uns den Reichtum des Daseins erfahren lassen.
In diesem Gedicht aus den 1980er Jahren verblüfft die Leichtigkeit, mit der sich der für sein pessimistisches Menschenbild bekannte Dichter dem „Zusammensetzspiel“ hingibt. Kunert adoptiert die Rhythmen des Kinder- und Abzählreims, um die Leidenschaften und Glücksmomente, aber auch die Finsternisse und fortdauernden Grausamkeiten der Spezies Mensch durchzubuchstabieren.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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