Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Ein schwarzer Tag“

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Ein schwarzer Tag

An solchen Donnerstagen
hackt sogar der erfahrenste Metzger
sich einen Finger ab.
Alle Züge haben Verspätung,
weil sich die Selbstmörder
nicht mehr beherrschen können.
Der Zentralcomputer im Pentagon
ist schon lange zusammengebrochen,
und alle Wiederbelebungsversuche
in den Freibädern kommen zu spät.

Zu allem Überfluß
kocht nebenan bei Marotzkes
jetzt auch noch die Milch über,
der Hund hat Verdauungsbeschwerden,
und nicht einmal Tante Olga,
die Unverwüstliche,
ist so ganz auf der Höhe.

1998/99

aus: Hans Magnus Enzensberger: Leichter als Luft. Moralische Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1999

 

Konnotation

Im Repertoire des Aberglaubens hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass der Freitag, besonders wenn er auf den 13. Tag eines Monats fällt, für einen „schwarzen Tag“ geradezu disponiert sei. Der Lyriker Hans Magnus Enzensberqer (geb. 1929), der sich mit unerschütterlichem Stoizismus gegen politische, moralische oder ästhetische „schwarze Tage“ immunisiert hat, macht sich hier ein Vergnügen daraus, die Koordinaten der Katastrophenanfälligkeit ein wenig zu verschieben.
In diesem Gedicht, das gegen Ende der 1990er Jahre entstanden ist, summieren sich entgegen aller Übereinkünfte an einem Donnerstag die kleinen und größeren Katastrophen. Und obwohl von bedenklichen oder tragischen Vorfällen die Rede ist, hat der Autor durch gezielte Übertreibungen sein ironisches Gegengift schon ausgestreut. Im zweiten Teil des Gedichts ist dann das Gerede vom „schwarzen Tag“ auf den Rapport banaler Alltags-Probleme geschrumpft. So dekuvriert Enzensberger durch ironische Repetition die Lamenti über schicksalhafte „schwarze Tage“ als Geschwätz.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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