Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Sitzstreik“

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Sitzstreik

Der Buddha nimmt die Beine in die Hand.
Der Eilbote zockelt hinterdrein.
Die Fixsterne wallen.
Der Fortschritt zappelt in der Warteschleife.
Die Schnecke verrennt sich.
Die Rakete hinkt.
Die Ewigkeit setzt zum Endspurt an.

Ich rühre mich nicht.

1995

aus: Hans Magnus Enzensberger: Kiosk. Neue Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1995

 

Konnotation

Den Propheten der politischen Dynamik, die sich gerne als Philosophen des Fortschritts exponieren, hat der Dichter Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) sehr viele skeptisch-ironische Gegenreden gewidmet. In dieser poetischen Miniatur aus dem Band Kiosk (1995) löst er alltägliche Redewendungen aus ihrem Kontext und setzt sie zu wunderbar paradoxen Fügungen zusammen. Die Theoretiker der Beschleunigung werden der Lächerlichkeit preisgegeben.
Die bezwingende Komik dieses Gedichts ergibt sich aus der Reihung von Paradoxien. Personen, Ideen oder Mythen, die in der Regel durch Zustände stoischer Ruhe charakterisiert sind, werden hier unziemlicher Beschleunigung ausgesetzt. Umgekehrt verharren die Repräsentanten der Geschwindigkeit – also der Eilbote, die Rakete oder der Fortschritt – in Langsamkeit oder jämmerlichem Stillstand. Aber auch das lyrische Subjekt wird entzaubert: Denn die trotzige Unbeweglichkeit des Ich wird ironisch als Aktivität ausgegeben, als rebellischer „Sitzstreik“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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