Heinrich Heines Gedicht „Ein Fichtenbaum steht einsam“

HEINRICH HEINE

Ein Fichtenbaum steht einsam
Im Norden auf kahler Höh’.
Ihn schläfert; mit weißer Decke
Umhüllen ihn Eis und Schnee.

Er träumt von einer Palme,
Die, fern im Morgenland,
Einsam und schweigend trauert
Auf brennender Felsenwand.

1822

 

Konnotation

Das im Frühjahr 1822 entstandene Gedicht über den Fichtenbaum aus dem kalten Norden und die Palme aus dem glutheißen Süden gehört zu den populärsten und am meisten rezitierten Texten Heinrich Heines (1797–1856); zudem wurde es in über 120 Kompositionen vertont. Die zwei auch im grammatikalischen Geschlecht verschiedenartigen Bäume – der männliche Fichtenbaum und die weibliche Palme – werden in ein Sehnsuchtsverhältnis zueinander gesetzt, wobei offen bleibt, ob es um Zustände der Liebe und des Geliebtwerdens geht oder um die „entsetzliche Gemeinsamkeit im Schweigen und im Einsamsein“ (Wolf Wondratschek).
Die sonst bei Heine rare Baumsymbolik hat viele Quellenforschungen beflügelt. Tatsächlich lässt sich in orientalischen Legenden die Konstellation einer Liebessehnsucht zwischen entfernten Bäumen verschiedener Gattungen nachweisen. Heine selbst fand das Motiv vermutlich in David Ferdinand Koreffs (1783–1851) Oper Aucassin und Nicolette, die im Februar 1822 in Berlin uraufgeführt worden war.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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