Heinrich Hoffmann von Fallerslebens Gedicht „Der Mond“

HEINRICH HOFFMANN VON FALLERSLEBEN

Der Mond

Der Mond zieht durch die Wolken,
Er kommt so hell heran.
Ihr Kinder, eilt ins Freie!
O seht den Mond euch an!

Da streckt das kleinste Knäbchen
Die Arm’ hinaus gar weit,
Den Mond, den Mond will’s haben,
Nach ihm es weint und schreit.

Ich kann ihn dir nicht geben,
Auch wenn du größer bist,
Kann ich kein Glück dir geben,
Das nicht auf Erden ist. –

Denk’ bei dem goldnen Monde,
Der hoch am Himmel schwebt,
Daß niemand hier auf Erden
Unmögliches erstrebt.

1872

 

Konnotation

Unter den 500 Kinderliedern, die der Dichter, Literaturprofessor und unbotmäßige Patriot August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) verfasst hat, gehört die zarte Beschwörung des ungreifbaren Mondes zu den anrührendsten. Hoffmann von Fallersleben hatte seine turbulenten Jahre als aufsässiger Poet, der gegen Kleinstaaterei und den Egoismus der Fürsten polemisierte, bereits hinter sich, als er 1872 sein vollkommenes Lied von der Unerreichbarkeit des Glücks schrieb.
Wie in der romantischen Dichtung erscheint der geheimnisvolle Erdtrabant als verheißungsvolles Himmelszeichen. Den kindlichen Wunsch nach Berührung des Mondes nimmt der Dichter als Bild für den Umgang mit privaten und politischen Utopien. Fast liest sich dieses wunderbare Gedicht wie eine Abwehr revolutionärer Hoffnungen. Von Fallersleben, der 1842 wegen seiner ketzerischen Gedichte von der Universität Breslau entfernt und des Landes verwiesen, 1848 aber rehabilitiert wurde, plädiert hier für einen Pragmatismus der Ziele.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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