Heinz Czechowskis Gedicht „Der Winter“

HEINZ CZECHOWSKI

Der Winter

Mein Vater starb unversöhnt. Ich
Wartete auf das wirkliche Leben.
Dann starb meine Mutter. Der Schnee
Hielt den Zug fest, endlich
Lief ich über das Eis, die Tür
Des Altenheimes war schon verschlossen, schließlich
Stand ich vor ihrem Bett. Wie lange
Hatte sie auf das wirkliche Leben gewartet?
Es kamen die Söhne. Und schweigend,
Wie sie gekommen, sind sie gegangen. Jetzt
Sind wir wir, und die Luft
Zwischen uns zittert. Unabweisbar
Werden wir älter, wir folgen,
Wie durch den Schnee,
Der Spur der Gestorbenen, dorthin
Wo uns das wirkliche Leben erwartet.
Ich stelle mir vor,
Ich wäre dort, wo ich nicht bin,
Und weiß keine Antwort.

1980er Jahre

aus: Heinz Czechowski: Die Zeit steht still. Ausgewählte Gedichte. Grupello Verlag, Düsseldorf 2000

 

Konnotation

Die große Erzählung seines Lebens hat Heinz Czechowski (geb. 1935), ein Abkömmling der so genannten Sächsischen Dichterschule, in seine Gedichte verlagert. Was er in seinen „Gelegenheitsgedichten“ (so der Autor selbst über seine Poesie) aufzeichnet, sind bittere Existenzbefunde eines Entwurzelten und Enttäuschten. Der politische Umbruch in der DDR hatte den Skeptiker Czechowski aus der Bahn geworfen, verfangen in den „Fallstricken des allgemeinen Lebens“ sah sich der Autor bald nur noch als „mein eigener Pflegefall“.
In der lyrischen Inventur seines Daseins gerät der fatalistische Nonkonformist Czechowski auf eine fortdauernde „Nachtspur“. Die Bekenntnisse des „furor melancholicus“ (Wolfgang Emmerich) bewegen sich immer weiter weg von jeder Zukunftserwartung. Der Dichter selbst definiert sein Gedicht als „Reaktion auf den erlebten Moment, den Kreuzungspunkt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in dem geschichtliche Erfahrung bewusst wird, notierbar.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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