Helga M. Novaks Gedicht „keine Mutter nährte mich“

HELGA M. NOVAK

keine Mutter nährte mich

keine Mutter hat mich je genährt
auch nur ein Hemd an mir gewechselt
die mich entband die fühlte nur
ihren eignen Schmerz
mich gab es für sie nicht
so frei war ich drei Tage alt
war gut mich zeitig freizugeben
mich konnte nehmen wer mich sah
lächelnd war ich niemandem verpflichtet
ich bin so frei und ohne Dank
seit meinem dritten Tag gewesen
jetzt da mich endlich keiner will
mit fünfzig ists ein andres Lächeln
und keine Liebe geht mir nun zur Hand
Heimat und Landstrich längst verloren
ganz ohne Vater immer schon
der sprengte seinen Kopf beizeiten
mit einem Schuß so bin ich frank und frei.

1985

aus: Helga M. Novak: solange noch Liebesbriefe eintreffen. Gesammelte Gedichte. Schöffling & Co. Frankfurt am Main 1999

 

Konnotation

Der Liebesentzug wurde zur Signatur ihres Lebens. Ihre erste Verstoßung in die Fremde erlitt die 1935 geborene Helga M. Novak bereits drei Tage nach ihrer Geburt in einem Kinderheim in Berlin-Köpenick, als ihre Mutter das Neugeborene zur Adoption freigab. Das anrührende Gedicht, das fünfzig Jahre nach dieser Urszene entstand, spricht vom Trauma einer lebenslangen Verlorenheit.
Helga Novak hatte nicht nur das biographische Unglück, bei wenig liebenswerten Adoptiveltern zu landen, sie verlor auch „Heimat und Landstrich“. Auf ihre frechen, zornigen Verse reagierte der SED-Staat mit blanker Paranoia. Ein Journalistik-Studium in Leipzig brach sie nach einem Anwerbungsversuch durch den DDR-Staatssicherheitsdienst ab und floh 1961 nach Island. Novak nomadisierte anschließend durch die Bundesrepublik und Italien und zog sich schließlich 1992 in die polnischen Wälder zurück.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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