Helmut Kraussers Gedicht „Musik“

HELMUT KRAUSSER

Musik

Musik, die morgens seltsam trist,
abends anders, sonderbar
heimelig, berückend klang.
wievieles einmal wichtig war,
inzwischen längst vergessen ist.
die kleine, schlichte, irgendwie
halb ausgeführte melodie,
war immer da, mein leben lang.
du summtest sie, vergessen bist
auch du, verzeih, was blieb, sind jene
sonderbaren fünf, sechs töne,
abends anders, morgens trist.

2005

aus: Jahrbuch der Lyrik 2007, hrsg. v. Christoph Buchwald und Silke Scheuermann, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2006

 

Konnotation

Allerlei „chlorreiche Momente“ hat sich der 1964 geborene Romancier, Komponist und Leadsänger Helmut Krausser in seinen Gedichtbänden einfallen lassen: Alltagsbilder, Genreszenen aus der Penner-Kultur oder kleine snap-shots vom Dichter als starkem Mann. Fast alle diese lyrischen Selbstinszenierungen kommen als Lockerungsübung daher, changierend zwischen Schnoddrigkeit und Pathos. Aber immer mit Formbewusstsein.
Im strengen vierhebigen Jambus entwickelt Krausser hier eine kleine, „halb ausgeführte“, von gelegentlichen Reimen unterstützte, von kleinen Einschüben und Beifügungen in der Schwebe gehaltene Melodie. Das 2004/05 entstandene Gedicht erzählt von Musik als einer Art Geschichtsspeicher, der bestimmte Gefühlsströme in den Körpern aufzeichnet und sie beim Wiederhören wachruft. Hier ist die vitalistische Kraftgebärde, die Krausser sonst liebt, völlig verschwunden – hier favorisiert der Autor das Leise, die ästhetische Erfahrung beim Heranwehen einer vergessenen Melodie.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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