Henning Ziebritzkis Gedicht „Oben, im umgewandelten Postgebäude…“

HENNING ZIEBRITZKI

Oben, im umgewandelten Postgebäude
Ich hatte den Abschluß vermasselt und fand mich allein
über der Stadt wieder, in einem Lokal, weit und übersichtlich
wie ein Landeplatz. Schönheiten schwirrten heran, nackt unter feinem
Riemengeflecht und probierten auf der Bühne eine Choreographie
zwischen schwarzen Kübeln, aus denen Tulpenbündel ragten.

Der Kellner war auch ein Künstler, aber ich war sehr durstig.
Wartend sah ich drei Kräne über dem riesigen Erdloch voller Wasser,
die sich gegeneinander drehten, ohne sich zu berühren,
während überfüllte Tonnen auf- und niederliefen. Wieder verfiel ich
in Mechanismen wie krankende Schwäne, altes Liedernagen.

Schließlich das Zeug, das ich endlich runterkippte – Rautenausschnitte
von Ziegelwänden und Himmel glänzten durch das irre Muster
der Verstrebungen, klar wie in Essig getaucht. Das müsse klingen
wie Aramäisch, verstand ich in fremder Sprache, und wurde von Maschinen,
sehr leisen, leer in ein anderes Reich getragen.

nach 2000

aus: Henning Ziebritzki: Schöner Platz. Gedichte. zu Klampen Verlag, Springe 2007

 

Konnotation

Wenn unsere zweckrationale Vernunft einen Moment aussetzt und die geschäftlichen Routinen versagen, dann öffnen sich die Sinne. In solchen unbewachten Augenblicken rücken die Mysterien dicht an uns heran. So auch bei dem lyrischen Protagonisten im Gedicht des 1961 geborenen Dichters Henning Ziebritzki. Das Ich ist hier in überirdisches Gelände geraten, in ein Lokal, das einen Panoramablick über die Stadt erlaubt.
Plötzlich, beim scheinbar achtlosen Hinsehen auf das Getriebe des Alltags, erweitert sich die Wahrnehmung des Ich, wird offen für das Wunderbare. Ziebritzkis durstiger Held hat eine Niederlage erlitten, aber er sieht die Menschen und Dinge seiner Umgebung in neuem Licht. Zunächst sind es nur vorbeischwirrende Model-„Schönheiten“, danach schon die seltsame Choreographie schwankender, sich nie berührender Kräne. Schließlich kommt es zur mystischen Begegnung mit dem Unerhörten: Fetzen der religiösen Ursprache Aramäisch wehen heran und das Ich gleitet hinüber in den „anderen Zustand“ bzw. „in ein anderes Reich“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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