Hermann Hesses Gedicht „Im Nebel“

Im Nebel

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

1905

aus: Hermann Hesse: Die Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1992

 

Konnotation

Nach seinem erfolgreichen Romandebüt Peter Camenzind (1903), einer Hymne auf die langsame und tragische Bewegung in der Natur, beginnt für Hermann Hesse (1877–1962) die „bürgerliche Epoche“ seines Lebens: Er heiratet 1904 und zieht in das entlegene Dorf Gaienhofen am Bodensee. „In Gaienhofen“, so schreibt er später, „lebte ich acht Jahre, im Versuch, ein natürliches, fleißiges, der Erde nahes Leben zu führen.“ Dort entstand im November 1905 das berühmte Gedicht „Im Nebel“.
Was sich wie die Lebensbilanz eines altersweisen Schriftstellers liest, erweist sich als das lyrische Einsamkeits-Dogma eines gerade mal 28jährigen Autors. Das Ich Hesses sieht sich von allen guten Freunden und Geistern verlassen und wandert etwas gravitätisch, getragen von Kreuzreimen, durch einen „Nebel“, der nicht zufällig das Palindrom von „Leben“ ist.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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