Hugo Dittberners Gedicht „Briefe“

HUGO DITTBERNER

Briefe

Der erste Brief legt dir etwas zu Füßen.
Es ist tief unten, und du ahnst nur.
Der zweite Brief enthält eine fremde Spur.
Der dritte dreht die Lanze in der Wunde.
Den achten Brief entdeckst du spät.
Es ist hoch oben; und du erkennst jetzt.
Ich öffne diesen Brief, unten jagt mein Herz.
Es könnte ein erster sein, dem andere folgen.

1992

aus: Hugo Dittberner: Das letzte fliegende Weiß. Palmenpresse, Köln 1994

 

Konnotation

Briefe sind Reservoire vertraulicher Mitteilungen. Sie können auch Orte der Selbstvergewisserung sein oder Oasen der Intimität. Der Himmel und der existenzielle Abgrund können in ihnen ebenso aufblitzen wie Wunschbilder eines schöneren Daseins. Die „Briefe“, die das lyrische Subjekt im Gedicht Hugo Dittberners (geb. 1944) sichtet, sprechen von seelischen Erschütterungen und Verletzungen. Sie bilden vielleicht die Geschichte einer Liebe und eines furchtbaren Liebesverlusts ab. Am Ende scheint so etwas wie Zukunft noch möglich – in „anderen“ Briefen.
Hugo Dittberners Gedichte lesen sich oft wie hingetupfte Wunschbilder, die gegen alle Widerstände des Alltags von der Überwindung der „stumpfen Wirklichkeit“ träumen. In den Gedichten des Bandes Das letzte fliegende Weiß (1992/1994) tritt das lyrische Subjekt so weit wie möglich zurück, um das Offene und die Durchlässigkeit einer Szene oder Situation zu feiern.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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