Hugo von Hofmannsthals Gedicht „Vergänglichkeit“

HUGO VON HOFMANNSTHAL

Vergänglichkeit

Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen:
Wie kann das sein, daß diese nahen Tage
Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?

Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:
Daß alles gleitet und vorüberrinnt.

Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,
Herüberglitt aus einem kleinen Kind
Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.

Dann: daß ich auch vor hundert Jahren war
Und meine Ahnen, die im Totenhemd,
Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar,

So eins mit mir als wie mein eignes Haar.

1894

 

Konnotation

Mit Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) verbinden wir das Bild des frühvollendeten österreichischen Dichtergenius, der es bereits als Gymnasiast vermochte, ein Gedicht als ein „gewichtsloses Gewebe aus Worten“ zu komponieren, die „einen genau umschriebenen, traumhaft deutlichen, flüchtigen Seelenzustand hervorrufen, den wir Stimmung nennen“. Schon der Zwanzigjährige entwirft in einer Reihe von Terzinen (= ursprünglich drei Verszeilen, die nach dem Muster des Kettenreims verknüpft sind) die barocke Grunderfahrung der Vergänglichkeit.
Zur Idee der Vergänglichkeit tritt hier der Gedanke einer mystischen All-Einheit hinzu – denn die Erfahrung, „dass alles gleitet und vorüberrinnt“ verweist auf einen unendlichen Prozess der Metamorphosen. Die unbeständige Gestalt des Ich durchläuft unterschiedliche Existenzstadien: Das Subjekt ist „aus einem kleinen Kind“ hervorgegangen und im Innersten geprägt durch die toten „Ahnen“. Nach 1900 schrieb Hofmannsthal kaum noch Gedichte und konnte sein „grenzenloses Sagenkönnen“ (Max Kommerell) nicht mehr weiterentwickeln.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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