INGEBORG BACHMANN
Alle Tage
Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.
Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.
Er wird verliehen
für die Flucht vor den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.
1953
aus: Ingeborg Bachmann: Werke Bd. I: Gedichte. Piper Verlag. München 1978
Das Erscheinen von Ingeborg Bachmanns (1926–1973) erstem Gedichtband Die gestundete Zeit im Dezember 1953 empfand die literarische Öffentlichkeit als epochales Ereignis. Plötzlich war da eine zur göttlichen Diva stilisierte Dichterin mit exzessiv sinnlichen Bildern, und zugleich eine suggestive poetische Stimme des Nonkonformismus. Besonders das Gedicht „Alle Tage“ wurde als pazifistischer Widerspruch gegen die Realität des „Kalten Krieges“ gelesen.
Das Gedicht umkreist einen permanenten Kriegszustand, der die alten Ordnungen zerstört hat. Es ist eine post-heroische Welt, in der die Zivilbevölkerung in die „Feuerzonen“ gerückt ist – ein Befund, der selbst ein halbes Jahrhundert nach Entstehung des Gedichts noch Aktualität beanspruchen kann. Dieser absurden Welt des permanenten Krieges stellt das Gedicht seine Diagnose in Form von Behauptungen, die selbst fast wie Befehle klingen. Was innerhalb der alten militärischen Ordnung als defätistisch galt, wird hier nun als Tugend gepriesen: Fahnenflucht, Geheimnisverrat und Befehlsverweigerung.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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